Ein tagelanger Wellenbrecher – Sarek 2019

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von Lionel Butry

Prolog

Drei Jahre nach der letzten gescheiterten Wanderung durch den Sarek Nationalpark, sechs Jahre nach der ersten großen Wanderung, begibt sich die JDAV Duisburg wieder nach Nordschweden, um die gescheiterte Tour erneut in Angriff zu nehmen. Doch diesmal hat sich die alte Crew Verstärkung mitgenommen. Ausgerüstet mit Adiletten und sehr viel Essen, geht es morgens um 5 Uhr mit den Autos Richtung Norden. 1300km später gibt es dann die ersehnte Essens- und Schlafpause.

Am nächsten Tag sollen die restlichen 1200km zurückgelegt werden. Reichlich Zeit, um das Instagame aufzusteppen. Bevor es aber wieder auf die E4 geht, wird noch Cinderella besucht. Als die 12 Wanderer in Kvikkjokk ankommen, sind ihre Essensreserven aufgebraucht. Obwohl. Der Geburtstagsmüsliriegel ist noch so knackig wie vor zwei Tagen am Landschaftspark. Die Autotüren werden aufgestoßen und augenblicklich begrüßen die Mücken die Neuankömmlinge. Schnell werden die Zelte aufgebaut, um sich für den morgigen Tag auszuruhen.

Tag 1: “Können wir Pause machen?” – 19,6km in 7h 50min

Nach einem mehr oder eher weniger ausgiebigem Frühstück geht es los. Rasch wird gemerkt, dass das Wandern mit einem ca. 15kg Rucksack doch anstrengender ist. Vor allem, wenn man noch ein paar extra Kilo in seinen Rucksack packt. Selbst schuld. Doch von der Fjällstation in Kvikkjokk bis zu den Lappen-Hütten in Pårek gibt es noch einen Wanderweg mit Brettern über den Sümpfen. Trotzdem ist das Vorankommen erschwert. Faszinierende Dinge wie Höhlenmalereien oder Bäume halten Sauron immer wieder auf. Doch auch auf Wanderwegen muss darauf geachtet werden die richtige Wegegabelung zu wählen. Aber ein kurzer Blick auf den Kompass gibt da schnell Auskunft.

Die Tour mit eingezeichneten Schlafplätzen

Je weiter sich die Gruppe den Sümpfen nähert, desto vielzähliger werden die Mücken. Da helfen selbst ausgiebige Anti-Brumm Waschungen nicht mehr. Auch die unzähligen Vergleiche mit der Mückenplage von 2016 ändern nichts daran, dass es verdammt noch mal überall juckt! – aber 2016 waren es eindeutig mehr Mücken.

Nach drei Vierteln der Tagesstrecke weist den Wanderern eine mächtige Holzschnitzerei den Weg zur ersten Furt. Ungläubig stehen die Sarek-Novicen vor dem Fluss, während sich die Sarek-Veteranen schon die Wanderschuhe ausziehen. Einer nach dem anderen überquert den Fluss. Die Kälte des fließenden Wassers brennt auf der Haut der platt gelaufenen Füße. Naja. Ein Leiter behauptet nichts von der Kälte zu merken und erhält dafür ungläubige, aber beneidende Blicke. Vor allem vom Jesus der Gruppe. Er hat es verlernt über das Wasser zu laufen und spürt die Kälte besonders stark. Am anderen Ufer entdeckt er, zur Krönung des Ganzen, die Erste von vielen noch kommenden Blasen der Gruppe. Während sich alle wieder die Schuhe anziehen, springt einer der Jugendlichen in den Fluss. Er hat dabei nicht bedacht, dass seine Unterhose gar nicht mehr trocken wird. Dafür ist er für zwei Stunden sauber. Nach der Furt ist es nicht mehr weit bis zum geplanten Schlafplatz. Dort angekommen werden die Zelte aufgebaut, Wasser gekocht und die erste Gourmet-Mahlzeit der Tour aufgebrüht.

Tag 2: “Beginn der Steinzeit” – 12,7km in 8h 20min

85g Müsli und 15g Milchpulver leichter (manche habe sich auch um noch mehr erleichtert), will sich die Jugendgruppe wieder auf den Weg machen. Doch nach den gestrigen kläglichen Orientierungsversuchen mit Karte und Kompass entscheiden sich die Jugendleiter den Umgang damit nochmal zu wiederholen. Nachdem der genaue Standort ermittelt und auf der Karte eingezeichnet wurde, werden die Rucksäcke geschultert.

Der Tag beginnt mit einem Marsch durch Sumpfgebiet. Nur gibt es keine Holzbretter oder gar Wege mehr, welche die Wanderer folgen können. So schlängeln sie sich die ersten 700m durch den Morast. Kurzerhand wird der Fluss gefurtet, der 2016 so angeschwollen war, dass die Tour abgebrochen werden musste (vom Schaden an Mann und Material mal abgesehen). Nach der Furt folgt ein Aufstieg, bei der sich die Tundra langsam in eine einzige Steinlandschaft verwandelt. Schon nach den ersten Minuten wird sich über die Steine beschwert. Wenn die nur wüssten. Die Route führt sie über ein Joch zwischen zwei Gletschern entlang. Nein. Das sind immer noch nur Schneefelder. Aus der Ferne kann man Tiere auf den weißen Flächen erkennen. Sind das etwa Bären? Doch zum Glück entpuppen sich die Vierbeiner doch nur als Rentiere.

Am höchsten Punkt macht die Gruppe eine Pause. Schon den gesamten Tag über werden Gespräche über schön fettiges Essen geführt. Und plötzlich holt ein Jugendleiter eine Salami aus seinem Rucksack. Salami hat noch nie so gut geschmeckt. Als es wieder bergab geht, verwandelt sich die Landschaft wieder zurück zur Tundra. Ein Rentier-Kriegsschauplatz weist den Weg zu einer kleinen Brücke, mithilfe der sie den nächsten Fluss überqueren. Die letzten drei Kilometer legen die Jugendlichen im Gådokvágge-Tal zurück. Vor ihnen erstrecken sich zwei enge Talkessel und (diesmal wirklich) ein Gletscher – der Bårddejegna.

Tag 3: “Im Blindflug zur Stairway to Heaven“ – 15,6km in 10h 20min

Als am nächsten Morgen die ersten Frühaufsteher aus ihren Zelten lugen, sehen sie nichts. Sie sehen wirklich überhaupt nichts. Die Wolken hängen so tief in der Senke, dass sie durch den Nebel keine 10m sehen können. Der Vormittag verstreicht in der Hoffnung, dass sich der Nebel lichten würde. Doch das tut er nicht.

Nachdem die meisten Blasen das letzte Mal versorgt worden sind, der Vorrat an Blasenpflaster ist nämlich jetzt schon zur Neige gegangen, wandern die 12 Personen weiter. Wenigstens hat sich ihr Sichtfeld auf 50m erweitert. So folgen sie ihrem GPS-Gerät zum Eingang des westlichen Talkessels. Immer weiter laufen sie durch das Weiß. Der weiche, moosbewachsene Boden weicht einem endlosen Geröllfeld – dem Wellenbrecher. Auch wenn sie versuchen zu blickn, was andere nich blickn, erblickn sie immer nur Steene. Ihr Wellenbrecher führt sie immer weiter durchs Lullihavágge-Tal. Zwischendurch fängt es an zu nieseln und die von Flechten bewachsenen Steine werden zu tückischen Rutschfallen. Gelegentlich kann die Jugendgruppe auf Schneefelder ausweichen, um dem Geröll ein paar Meter zu entfliehen.

Als sie den furchteinflößenden Felsen™ hinter sich lassen, geht es einen von Schneeflächen unterbrochenen losen Steinhang entlang. Doch wie es schon den ganzen Tag so schön gepredigt wurde: Der schwierige Teil kommt noch. Trotzdem können sie es kaum erwarten endlich zum Aufstieg zu gelangen. Bloß weg von diesem lästigen Geröllhang. Immer wieder kontrollieren sie das GPS-Gerät, um den Aufstieg nicht zu verpassen. In voller Erwartung noch weiter gehen zu müssen machen sie eine Pause. Hier kann es ja sowieso nicht hoch gehen. Doch ein kurzer Blick auf das GPS sagt etwas anderes. Ungläubig stehen sie vor dem Steilhang.

Im Gänsemarsch kämpfen sich die Wanderer die „Stairway to Heaven“ hoch. Überall um sie herum ist es weiß. Doch auch am Ende des Anstiegs gibt es kein Licht. Nur der ewige weiße Schleier, der sie schon den ganzen Tag über in seiner klammen Umarmung hält. Danach geht es über weitere Geröllfelder und Schneeflächen hinab auf die Luohttoláhko-Hochebene. Vollkommen erschöpft bauen sie bei der ersten Gelegenheit ihre Zelte auf Dreck und Steinen zwischen Felsen und Seen auf. Doch für einen Jugendleiter ist die Nacht nicht wirklich erholsam. Er muss sich seinen Schlafplatz mit Dennis teilen.

Tag 4: “Richard” – 10,6km in 7h 30min

Der Tag beginnt wie der vorherige geendet hat: Mitten im Nebel. Da kann es leicht passieren, dass man das Lager in nördliche Richtung verlässt, aber von Süden wieder zurückkommt. Nachdem auch ein bestimmtes Zelt abgebaut wurde, geht es wieder weiter über den Wellenbrecher. Von der Luohttoláhko-Hochebene folgen sie dem GPS, um auf das nächste Plateau zu gelangen. Die Wanderer müssen auf einer bestimmten Höhe einen Hang queren. Wenn sie zu hoch oder zu niedrig in den Hang einsteigen, ist dieser nicht passierbar. Doch als sie sich auf der perfekten Höhe durch den Hang schlagen, fühlt es sich nach allem anderen als die perfekte Route an. So kämpfen sie sich in weißen Dunst gehüllt erneut über Geröllfelder, Bäche und losen Schutt.

Nach der letzten Anstrengung unterhalb eines kleinen Schneefelds haben sie endlich das Plateau erreicht. Diesem folgen sie bis zu einer Schlucht, an dessen Grund ein Fluss fließt. Während sich alle die Wanderschuhe zum furten ausziehen, bemerken sie nicht, dass sich ihnen flussabwärts ein Wanderer nähert. Als er bei den Jugendlichen ankommt, erklärt er ihnen, dass er vorgestern seine Karte verloren hat, gestern sein Handy im Regen kaputt gegangen ist, er nicht mehr weiß wo er ist und insgesamt schon 10 Tage im Sarek wandert. Da sie in die gleiche Richtung müssen schließt sich ihnen Richard an. Um den Fluss zu furten macht sich der Schwede nicht die Mühe seine Schuhe auszuziehen. Er marschiert einfach geradewegs durch das schienbeintiefe Wasser. Als er in verdatterte Gesichter blickt, erklärt er achselzuckend, dass seine Schuhe sowieso schon nass sind.

Doch für einen der Gruppe wird die Wanderung immer mehr zur Qual. Sein Großzeh schmerzt höllisch. Zum Glück neigt sich die Etappe nach der Furt schnell zum Ende und die letzten Meter vergehen für den Verletzen wie im Höhenflug.

Tag 5: „Wir können sehen!“ – 12,4km in 5h 40min

Der Nebel ist noch immer da. Aber immerhin hat er sich ein wenig gelichtet, sodass die Wanderer immer wieder Blicke auf das Njoatsosvágge-Tal erhaschen können. Die nun 13-köpfige Gruppe begibt sich auf den Weg zurück zu den Lappen-Hütten in Pårek.

Im Laufe des Tages lichtet sich der Nebel immer weiter bis sie schließlich ganz aus den Wolken hinauslaufen. Sie können über die gesamte Sumpfebene des ersten Tages bis zum See von Kvikkjokk schauen. Auch der Boden wird wieder angenehmer zu laufen. Der Wellenbrecher der letzten Tage weicht einem mit Gräsern bewachsenen Untergrund. An einer Furt verabschiedet sich Richard von der Jugendgruppe. Er muss noch den Samanas folgen. Obwohl das Laufen immer angenehmer wird, kommen die Wanderer nicht so schnell voran wie sie wollen. Denn der schmerzende Zeh von einem ihrer Kameraden bremst sie aus.

Als sie an der Baumgrenze ankommen, schlagen sie ihr Nachtlager auf. Sie nutzen die Abendsonne, um ihre nassen Strümpfe und Schuhe zu trocknen, waschen sich im nahgelegenen Bach und freuen sich einfach mal wieder barfuß über eine Wiese gehen zu können. Einige versuchen auch ein kleines Lagerfeuer zu entzünden, aber es gibt nur Löschholz. Doch einen Nachteil hat es auch wieder in Pårek zu sein: Die Mücken sind wieder da.

Tag 6: „700 chris-meter“ – 19,9km in 5h 20min

Der letzte Tag beginnt früher als alle anderen. Die Gruppe läuft auf demselben Weg wie am ersten Tag zurück nach Kvikkjokk. Sie folgen wieder dem Wanderweg, der sie zuerst auf Holzbrettern durch den Sumpf führt und sich dann durch den Wald schlängelt. Das Tempo der Jugendlichen steigert sich umso näher sie dem Ziel kommen. Die nach Tannen riechende Luft des Waldes beachten sie dabei gar nicht – so fixiert sind sie endlich am Parkplatz anzukommen. Dabei können sowieso nur die ersten zwei in der Gruppe den Geruch genießen.

Irgendwann kommt von einem Leiter die Ansage, dass es in 700m – genau bei zwei Dritteln der Tagesstrecke, die lang ersehnte Verschnaufpause gibt. Doch die 700m entpuppen sich als 700 chris-meter (chm). Das Chris’sche System ist ein Einheitssystem, das bei der ersten Schwedentour 2013 entwickelt wurde. Die Maßeinheit wurde nach ihrem Erfinder Chris benannt. Ein Chris-Meter definiert eine beliebig lange Strecke. Die Abstände zwischen den Größen variieren, sodass 2chm nicht unbedingt das Doppelte von 1chm sein müssen. Dementsprechend lang fühlen sich auch die 700chm bis zur Pause an. Diejenigen die am Anfang der Tour noch extra Gewicht mitgeschleppt haben nutzen die Pausen aus, um ihr zu tragendes Gewicht noch weiter zu reduzieren.

Als endlich der Wegweiser nach Kvikkjokk in Sicht kommt, fällt die gesamte Gruppe in einen Laufschritt bis sie schließlich rennend am ersehnten Parkplatz ankommt. Die Schuhe werden von den Füßen gerissen und die im Auto vergessene Salami vertilgt.

Epilog

Nach der anstrengenden Wanderung erholt sich die Jugendgruppe in der Nähe von Stockholm auf Rüdigers Halbinsel. Vier Tage lang entspannen sich die Jugendlichen an einer Holzhütte, die auf dem abgelegenen Teil der kleinen Insel steht. Über den Tag beschäftigen sie sich mit Holzhacken, Wegebau, Zecken ziehen, Mücken verfluchen oder Schwimmen. Nachmittags geht es in die Sauna und die Abende klingen an einem Lagerfeuer mit Marshmallows, Keksen, Stockbrot und Werwolf aus. Der Inselbesuch ist sehr erholsam, auch wenn die langen Wege manchmal scheiße sind.

Doch auch die Zeit auf der Insel geht vorbei und die 1300km zurück nach Duisburg werden in Angriff genommen. Schnell neigen sich die Essensvorräte in den Autos zur Neige. Aber zum Glück muss man sich im Stau nur mit einem LKW-Fahrer anfreunden, um für Nachschub zu sorgen.

Wenn die Reise ihnen eins gelehrt hat, dann, dass wenn du es nur zulässt dir die Natur dein wahres Gesicht zeigt – und Patrick am besten Schach kann.

2 Antworten

  1. Stefanie Scheffer

    Toller Bericht von einer anscheinend unvergesslichen Tour für alle. Danke, dass wir ein stückweit daran teilhaben können.